...sanft wie der Scirocco
Carloforte aus der Sicht eines ‚forestiero’.
Wer Carloforte verlässt, trägt viel davon mit sich. Der Fremde konnte aber
nicht viel von seiner Natur und Kultur zurücklassen, denn die Bevölkerung
dieser kleinen Insel lebt nach ihren eigenen Regeln und Gesetzen. Man ist
den Rest des Jahres unter sich. Die fremden Besucher, seien es nun
‚Zugvögel’ , die im Rahmen ihrer Sardinienreise kurz vorbeischauen, oder
seien es ‚Nestbauer’, welche jedes Jahr für einige Wochen auf die Insel S.
Pietro kommen: Alle diese Fremden haben keine Chance, etwas zu verändern.
Doch haben sie die Chance, etwas hier zu finden und zu begreifen, was ihr
eigenes Leben klärt und ihr Fragen bereichert: Tiefe – und doch
Schlichtheit. Intensität – und doch wieder nicht Vehemenz. Die Kraft der
Menschen von Carloforte, die Farbe ihres kleinen Heimatlandes, sie sind
sanft wie der Scirocco, auch wenn er brennt auf der Haut des ‚forestiero’
wie das Lachen der ‚ragazzi’ auf seiner gebleichten Seele. Trost erhält er
hier, auch wenn er keinem seine Sorgen sagt, wo doch alle ihm deuten, dass
sie wissen, was ein Menschenherz fühlen und leiden kann, auch wenn es hier
nicht nach außen dringt. Der Blick geht tief, tiefer als jedes
Imponiergehabe, jede Pose und jedwede Manier es zulassen möchten. Es nützt
nichts, sich zu verstellen, in der Ruhe der Gassen und in der stillen
Aufgeräumtheit der ‚negozi’ bist Du nur Du selbst, und wenn Du schwach bist,
so bist Du es mit den Kranken in ihren Sesseln, die keiner versteckt und die
Dir Kraft geben in ihrer Selbstverständlichkeit. Fühlst Du Dich aber stark,
so kann Deine Kraft nur nützen, Du spürst, dass Du sie für andere brauchen
möchtest: Für die Mutter zum Beispiel, deren Kinderwagen ein Rad verliert,
weil sie zu viele Einkaufstüten daran gehängt hat, und die alles stehen
lässt, um das Kleine zuerst fortzutragen, wissend, dass die Gemeinschaft
über ihren Besitz wacht. Vertrauen auch dem ‚forestiero’ gegenüber: Wenn der
Obsthändler Deinen Geldschein nicht wechseln kann, dann bezahlst Du eben
morgen. Wer wagt es, aus diesen Gassen aufs Meer zu treten, ohne seine
Schuld beglichen zu haben? Oder gibt es auch hier Gauner, Banditen, Mafiosi?
Über das Meer kommen sie gelegentlich, Handelsvertreter und Sektierer,
Scharlatane und Sendungsbewusste mit fanatischem Gepräge. Aber kaum betreten
sie diese kleine Welt, so neutralisiert die stoische Ruhe und stille
Lebensfreude der ‚Tabarkiner’ ihre nervöse Unruhe. Verlieren sich alle
Ansatzpunkte für ihr schädliches Tun. Unsicher ziehen sie sich zurück,
während die Insulaner ihnen noch leicht verwundert nachblicken, doch schon
wieder zugewandt dem Mitmenschen, der nicht flieht vor ihrer Sicherheit, der
sich von ihnen verstanden fühlt, auch wenn er ihre Sprache kaum spricht.
Seine kleinen Sorgen spüren sie feinfühlig auf, und er kann sich ihrer edlen
Zuwendung nicht erwehren, die niemals dreist sein kann und nie befremdet,
weil sie befreundet. Wissen die ‚forestieri’ was sie hier finden? Gewiss –
alle nicht. Aber wohl die, welche zurückkommen und dann auch schon erwartet
werden wie die emsig zwitschernden Vogelschwärme, welche sich am späten
Nachmittag in den ausladenden Ästen der Piazza-Bäume verstecken und dann auf
einmal wieder fort sind. Sie lassen den Dorfplatz still zurück für die
Zeitungsleser, die Schulkinder, die Mütter und die Alten, welche es immer
wieder zu diesem magischen Mittelpunkt ihrer kleinen reichen wundervollen
Heimat zieht.
(Kalle Waldinger, Juli 1983)